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Straffällig gewordene Jugendliche und Heranwachsende
12.11.2021 - Neu im Kanon der Maßnahmen: Lesen als Hilfe hin zu einem straffreien Leben
„Wer eine Straftat begeht, soll auch die Konsequenzen dafür tragen.“ Das ist die sehr klare Haltung der Mitarbeitenden in der Jugendhilfe im Strafverfahren (JuhiS). Doch geht es ihnen in den meisten Fällen dabei nicht um eine stupide Bestrafung, sondern um zielgerichtete, angeordnete Maßnahmen mit dem Ziel: „Nie wieder straffällig!“ Es gibt einen Maßnahmenkatalog, der dem Gericht zusammen mit dem Mitarbeitenden des Jugendamtes zur Verfügung steht, mit dessen Hilfe die Lebensführung von jugendlichen oder heranwachsenden Straftätern geregelt und deren Erziehung gefördert werden soll. „Diesen Katalog haben wir nun um die sogenannte Leseweisung erweitert“, berichtet der für Kinder und Jugend zuständige Erste Kreisbeigeordnete, Christoph Buttweiler.
Johanna Krämer, Melanie Winter und Martin Brügger bilden das Team im Bereich Jugendhilfe im Strafverfahren im Jugendamt des Landkreises Germersheim. Die Leseweisung wird in anderen Regionen bereits seit Längerem angewandt, z.B. in Dresden. Von dort haben die beiden Kolleginnen sie über unterschiedliche Wege kennen- und schätzen gelernt und im Landkreis Germersheim zunächst für eine Probephase seit März dieses Jahres eingeführt. Leseweisung heißt, der junge Mensch bekommt als Konsequenz für seine Straftat auferlegt, ein Buch zu lesen, das inhaltlich mit dem Vergehen zu tun hat. Anschließend müssen Fragen schriftlich und mündlich beantwortet werden und es findet mindestens ein Reflexionsgespräch statt. „Auf diese Weise setzen sich die Straftäter und Straftäterinnen mit ihrem Vergehen auseinander. Ob sie das Buch wirklich gelesen und selbst die Aufgabenstellungen beantwortet haben, finden wir schnell heraus. Wenn wir Zweifel haben, muss der- oder diejenige nacharbeiten“, berichten Krämer und Winter. Sie sind sich sicher: „In vielen Fällen ist das zielführender als beispielsweise ein stupides Ableisten von Arbeitsstunden, die nichts mit der Tat zu tun haben und keiner richtig kontrollieren kann.“
Erstaunt und überrascht sind die jungen Leute und auch ihre Eltern, wenn eine Leseweisung angeordnet wird: „Lesen als Strafe?“ „Nein“, halten Melanie Winter und Johanna Krämer dagegen, „Lesen als Chance, sich und das Vergehen zu reflektieren und in der Folge nicht wieder straffällig zu werden!“
Nach einem Jahr wird die pädagogische Maßnahme „Leseweisung“ ausgewertet. Aber schon heute sind sich die Fachleute sicher, dass sie ein Instrument sein kann, um junge Straffällige dauerhaft wieder auf die richtige Bahn zu bringen und nicht gleich dauerhaft zu Stigmatisieren. „Diese Maßnahme ermöglicht es unseren Fachkräften zudem, nah an dem jungen Menschen dranzubleiben und falls nötig, auch durch ihre Netzwerke zu Schulsozialarbeitenden, Jugendpfleger oder Jugendberufshelfern bei verfahrenen Situationen im privaten oder beruflichen Bereich helfen zu können“, sagt die Jugendamtsleiterin, Denise Hartmann-Mohr.
Wie wichtig das Netzwerk und die Nähe zu ihren Klientel ist, bestätigt auch Martin Brügger. Insbesondere während der Corona-Pandemie musste das Team kreative Zugänge finden. „Wenn einer nicht auf mein Schreiben reagiert hat, bin ich auch mal kurzerhand vor seiner Haustür gestanden. Die Reaktion war eigentlich immer gut. Viele der junge Menschen wussten sich gar nicht zu helfen und waren froh, dass jemand kommt und sich für sie interessiert.“ Brügger berichtet von einem Jungen, mit dem er stundenlang spazieren gegangen ist, um die weiteren Schritte im Strafverfahren zu klären und Ängste zu nehmen. Und von einem Brüderpaar, das klauend durch die Läden gezogen ist. „Fürs Klauen mussten sie die Konsequenz tragen. Doch ging es den beiden letztlich gar nicht um die Beute. Es war ein Hilferuf. Bei ihnen zuhause habe ich erkennen können, dass einiges im Argen lag. Gemeinsam mit Kollegen aus dem Jugendamt konnten wir passende Hilfen installieren. Heute hat sich dort vieles stabilisiert, auffällig sind die Jungs nicht mehr geworden.“
Die Leseweisung eignet sich nicht für jeden straffällig gewordenen jungen Menschen. Bei manchen könne über diese Maßnahme aber sogar das Strafverfahren ad acta gelegt und auf eine Hauptverhandlung verzichtet werden. Bisher umfasst die Leseweisungs-Bibliothek einzelne Bücher zu Themen wie Drogen, Cybermobbing oder Gewalt. Nach und nach soll sie wachsen. „Wir haben sogar schon einmal eine Buchempfehlung einer Mutter eines straffällig gewordenen Jugendlichen erhalten“, sagt Melanie Winter.
Rund 1.000 Fälle landen jährlich auf dem Tisch des JuhiS-Teams. Rund die Hälfte wird eingestellt, in der anderen Hälfte werden Brügger, Winter und Krämer aktiv. Gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft beraten sie über die weiteren Maßnahmen. Nur ein bis zwei Prozent der jungen Straffälligen verweigern jegliche Hilfe. Die meisten nehmen die Unterstützung aus dem Jugendamt an. Dabei bringen die Mitarbeitenden viel Verständnis auf. „Oft sind es jugendtypische Vergehen. Viele werden gar nicht erwischt. Bei uns landen dann die, die halt angezeigt wurden. Wir wollen ihre Taten nicht entschuldigen und manche, vor allem Wiederholungstäter, brauchen ein deutliches Urteil. Grundsätzlich aber geht es uns immer darum, einen Zugang zu finden, Hilfe zu leisten und nicht mit Strafe zu drohen“, sagt Martin Brügger. Mögliche Maßnahmen, um ein Verfahren zu beenden oder als Urteil in einem Verfahren sind u.a. Beratungsgespräche, Arbeitsauflagen, Soziale Trainingskurse, Leben ohne Gewalt-Kurse, Täter-Opfer-Ausgleich, Urinkontrollen, pädagogische Einzelbegleitung und nun auch die Leseweisung. „Bei jungen Straffälligen werden wir die Leseweisung sicherlich immer wieder anwenden, wenn klar ist, dass für sie die Hürde nicht zu hoch ist und gemeistert werde kann. Auch muss es passende Literatur zum Straftatbestand geben und zur Persönlichkeit der Person passen“, fasst Christoph Buttweiler zusammen.